Archiv des Autors: Heinz Wittenbrink

„We need every teacher digital, and every student digital.“

Neelie Kroes, die Europäischen Kommissarin für digitale Agenden, hat eine prägnante und entschiedene Rede gehalten: Transforming learning through technology – new tools for teachers, new opportunities for students [via lisarosa]. Kroes fordert, das gesamte Erziehungssystem auf digitale Technologien umzustellen:

My goal in the EU is clear: to get Every European Digital. That has to include education and training. We need every teacher digital, and every student digital. Right from the very start of formal education, and as part of lifelong learning.

Vorbild ist Südkorea, wo es keine Schulbücher auf Papier mehr gibt:

So, why, here in Europe, do most of our classrooms still feel like they did when I was at school? When digital media can be combined to create interactive rich content to help teaching: why are we still based on blackboards, textbooks and a uniform approach for everybody?

Kroes legt den Akzent nicht darauf, mit digitalen Technologien das zu leisten, was das bisherige Bildungssystem mehr oder weniger gut geschafft hat. Bildung kann heute radikal individualisiert werden, sich den unterschiedlichen Lernpfaden anpassen:

No two people learn alike. There are as many ways to learn as there are learners. Some people need time to approach an idea from new angles; but those who get it straight away will get bored if they can’t move on. Some people want to hear an explanation, others to see a demonstration. Some learn best by themselves, others in a group. Some in a formal learning environment; others at home over morning coffee. And so on.

Außerdem löst sich Bildung durch die neuen technischen Möglichkeiten von den Bildungseinrichtungen. Sie hört nicht mit einem Abschluss auf und findet überall statt.

Die Vizepräsidentin der europäischen Kommission verfolgt damit Ziele, die sich—aus der Perspektive nicht nur der südösterreichischen Provinz—noch immer avantgardistisch ausnehmen. In den meisten Schulen sind die neuen Medien immer noch neu; die Curricula an Hochschulen sind auf den Präsenzunterricht ausgerichtet; Schulbuchverlage werden weiter mit öffentlichen Mitteln durchgefüttert; an vielen Schulen ist sogar der Zugang zu Facebook gesperrt. Wer in diesen von cultural inertia (Kroes) blockierten Strukturen neue Wege gehen will, empfindet die Rede und hoffentlich auch die Politik von Nellie Kroes als Ermutigung.

They have to die, hat mir neulich ein kroatischer Professor über diejenigen seiner Kollegen gesagt, die Digitalisierung und Elearning blockieren. Die europäische Kommission wird hoffentlich dazu beitragen, dass wir nicht so lange warten müssen.

Nellie Kroes spricht ausdrücklich von digital literacy als Voraussetzung für die Teilnahme am politischen und wirtschaftlichen Leben in diesem Jahrhundert:

First, we need to make digital literacy, digital skills and technology-supported learning central to the public policy agenda. You are nowhere without digital skills in the 21st century. Ignoring that fact will just breed social exclusion.

Dieser Abschnitt interessiert mich besonders, denn wir haben uns im Web Literacy Lab dieselben Ziele und mit literacy auch denselben Begriff auf die Fahne geschrieben. Kroes meint in diesem Abschnitt mit digital literacy vor allem das Beherrschen technischer Tools. Digital literacy lässt sich aber viel weiter verstehen—Nellie Kroes skizziert in ihrer Rede ein Bildungsideal, nicht nur technische Kompetenzen. Digital literacy ist Bildung, die die Möglichkeiten der digitalen Kultur eröffnet, so wie literarische Bildung bisher den Zugang zur Schrift- und Buchkultur ermöglicht hat.

Bei Schulen und Hochschulen wird der Bedarf nach Wissen über und zur digital literacy schnell wachsen. Wir sollten bei unserem Forschungsprojekt darauf reagieren und die Frage nach digital literacy z.B. in der Schule und Hochschule explizit stellen.

[Auch gepostet in Lost and Found]

Literacy Links
30.5.-6.6.2011

Hinweise auf aktuelle Websites und Blogposts zum Schreiben im Web:

Blogger schreiben anders als Printjournalisten. Wenn ein Unternehmen mit Bloggern kommunizieren und sie als Multiplikatoren nutzen will, muss es sich sich auf diese Besonderheiten einstellen. In einem Workshop über Blogger Relations aus Unternehmenspraxis und Bloggersicht haben sich gerade Experten über dieses Thema ausgetauscht. Ein Indiz für die Veränderungen der Medienlandschaft: Manche Blogger erreichen mit ihre persönlichen Medium mehr Menschen als klassische Verlagsprodukte zu ähnlichen Themen.

Tweets unterscheiden sich noch deutlicher von den gewohnten Schreibformaten als Blogposts—auch wenn sie an ihre Verfasser ähnliche Anforderungen stellen wie Überschriften oder Zwischentitel.

Megan Garber fragt in einem anspruchsvollen Ausatz: Ist Twitter Schreiben oder Sprechen? Mit vielen Links zu Medientheoretikern und zu Diskussionen über Twitter stellt sie Mündlichkeit und Schriftlichkeit gegenüber und zeigt, dass Twitter mit diesem Gegensatzpaar nicht zu fassen ist. Sie sieht Twitter als Beispiel und Ausprägung von etwas Neuem, einer webtypischen Textualität. Text ist bei Twitter und in den Social Media in Gespräche eingebunden und vergänglicher, als wir es von analogen Texten kennnen. Und wenn wir ihn lesen, liest er uns zurück, sammelt Daten über uns und interpretiert uns.

In den englischsprachigen Ländern ist man es gewohnt, gutes Schreiben zu lehren, während es bei uns viele noch eher als Begabung denn als Technik sehen. Zu den witzigsten Blogs über wirkungsvolles Texten gehört How To Write Badly Well von Joel Stickley. Stickley gibt—ironisch—Tipps für ungewollte Wirkungen, z.B. in allen seinen Sätzen zusätzliche Beifügungen und Nominalkonstruktionen zu verwenden, um Zusatzinformationen zu transportieren [via Jana Herwig].

Die New Media Literacies-Website der Annenberg School for Communication & Journalism informiert über ein Vorbild unseres Web Literacy Labs. Eine Forschergruppe um Henry Jenkins beschäftigt sich dort mit der Frage, welche Medienkompetenzen Menschen des 21. Jahrhunderts brauchen und wie man sie am besten vermittelt. Ein Schlüsselkonzept: das partizipatorische Lernen. Nicht durch stabiles, passives Wissen erwirbt man die Fähikeit, mit den aktuellen Medien umzugehen, sondern durch aktive Teilnahme und Gestaltung.

Ich schreibe dieses Post mit einem neuen Tool, dem iA Writer for Mac der Information Architects. Die Information Architects sind Vorreiter modernen, auf Lesbarkeit und Konzentration ausgerichtetem Webdesigns; so haben sie 2009 den Auftritt der Zeit online gestaltet. Wie die Websites der Information Architects verzichtet der Writer auf alles, was nicht unbedingt nötig ist. Man konzentriert sich beim Schreiben ganz auf den Inhalt. Dabei hilft der Focus-Mode, bei dem alles bis auf den gerade geschriebenen Satz ausgegraut wird. Die iPad Version, die IA zuerst entwickelte, unterstützt durch eine eigene virtuelle Tastatur das Blindschreiben. In der Mac-Version werden Markdown-Formatierungen im Schriftbild umgesetzt, so dass sich mit ihm auf eine einfache Weise HTML-Texte verfassen lassen.

Zwei Ebenen der Web Literacy

Wir haben mit der Arbeit in drei inhaltlichen Work Packages begonnen. Die drei Fragen, die wir beantworten wollen, sind:

Aus welchen Kompetenzen besteht Web Literacy?
Welche dieser Kompetenzen bzw. welche Konkretisierungen dieser Kompetenzen sind für Unternehmen und Organisationen relevant?
Wie lässt sich Web Literacy am wirkungsvollsten vermitteln?

Auch wenn es gerade eine unserer Aufgaben in der ersten Phase des Projekts ist, zu präzisieren, was Web Literacy ist, brauchen wir einen Vorbegriff von ihr, um die verschiedenen Teile unseres Projekts koordinieren zu können. In diesem Post versuche ich, diesen Vorbegriff thesenartig zu formulieren—als Vorschlag für die interne und externe Diskussion.

Web Literacy bezeichnet die Fähigkeit, mit den Mitteln des Web und in der Umgebung des Web erfolgreich zu kommunizieren.
Ebene 1: Technische und rhetorische Skills

Bezogen auf das, was man beherrscht, wenn man sie besitzt, gehören zur Web Literacy die Fähigkeiten,

  • Information im Web aktiv und passiv zu organisieren,
  • Texte und Medien für die Kommunikation im Web zu produzieren und
  • sich im Web mit anderen zu vernetzen.

Dieses Modell der Web Literacy leitet sich aus dem Model-View-Controller-Pattern ab: Texte und Medien lassen sich als Models, die Möglichkeiten der Informationsorganisation als Views und die sozialen Beziehungen im Web als Controllers interpretieren. Auf dieser Ebene lässt sich Web Literacy als eine Menge von miteinander verbundenen Skills oder Techniken verstehen. Unsere Forschungsaufgabe im Web Literacy Lab ist es, diese Skills, bezogen auf bestimmte Kontexte, zu beschreiben, um sie dann in einem weiteren Schritt lehren zu können. Man kann diese Skills mit den Fähigkeiten vergleichen, die man braucht, um ein Instrument zu spielen. Ein Teil dieser Fähigkeiten (z.B. Noten lesen, das tonale System kennen) ist vom einzelnen Instrument unabhängig, ein anderer Teil nicht. Alle gehören sie in einen kulturellen Kontext (z.B. den der europäischen musikalischen Tradition). Konkret sind die drei Aspekte Informationsmanagement, Medienproduktion und Beziehungs- und Idenitätsmanagement im Web immer miteinander verbunden. Wer Twitter verwendet muss zum Beispiel mit Tools umgehen, um seinen Newsfeed zu organisieren und ihn in sein Informationsuniversum zu integrieren (Informationsmanagement), Tweets verfassen können, die relevant sind und Aufmerksamkeit erzeugen (Medienproduktion) und sich mit anderen Twitterern vernetzen können, vor allem in denen er ihnen folgt oder sich folgen lässt (Beziehungs- und Identitätsmanagement).
Ebene 2: Sensemaking im Web

Bezogen darauf, wie und wozu man diese Skills benutzt, ist Web Literacy die Fähigkeit, die digitalen Artefakte des Web zur Organisation im weitesten Sinn zu verwenden. Der Ausdruck Organisation im letzten Satz bezieht sich sowohl auf soziale Beziehungen wie auf Wissen und Tatsachen. Die digitalen Objekte des Web sind immer eingebettet in Speech Exchange Systems der Alltagskommunikation, sie haben Funktionen für die Accountancy, für die Berichtbarkeit/Darstellbarkeit von sozialen Tatsachen—ohne die diese gar nicht existierten, und sie sind Teil von Handlungssystemen. Auf dieser Ebene kann man Web Literacy mit den Fähigkeiten vergleichen, die man braucht, um Teil eines Orchesters zu sein und mit anderen zusammenzuspielen. Ich würde sie provisorisch (in Anspielung auf K.E. Weick) als Sensemaking bezeichnen. Diese Ebene wollen wir im Web Literacy Lab mit Methoden erforschen, die schon verwendet wurden, um z.B. das Zusammenspiel von Musikern, die Arbeitsweisen von Innovationscommunities oder auch die Alltagspraxis von Wissenschaftlern zu untersuchen.

Diese zweite Ebene ist viel schwieriger präzise zu erfassen als die erste. Vielleicht kann ich mit weiteren Vergleich erläutern, was mit ihr gemeint ist: Übertragen auf eine Sprache ginge es auf der ersten Ebene darum, grammatisch korrekte Sätze und Texte zu produzieren, auf der zweiten darum, Gespräche zu führen, mit anderen zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten. Übertragen auf die Wissenschaft ginge es auf der ersten Ebene darum, z.B. physikalisches Wissen zu vermitteln, auf der zweiten um die konkrete wissenschaftliche Praxis etwa im Labor. Um diese Ebene zu erforschen, wollen wir uns an Forschungen zur Gesprächsführung (Conversation Analysis) oder auch zur Praxis im Labor (Ethnomethodologie, Actor Network Theory) orientieren.

Methodisch können wir uns auf der ersten Ebene u.a. daran orientieren, welche Skills konkret z.B. bei Unternehmen und in Agenturen nachgefragt werden, welche Fähigkeiten in ähnlichen Projekten vermittelt werden, welche Kompetenzprofile bei der Diskussion über neue oder veränderte Berufsfelder (Social Media Manager, Online-Journalist, Facilitator) formuliert werden und welche Aussagen über Skills und Literacy sich aus der Entwicklung des Web ableiten lassen oder bereits abgeleitet wurden (so verlangt Tim Berners-Lee, wie ich heute von Julian erfahren habe, die Vermittlung von Data Literacy bereits in der Grundschule. Für die zweite Ebene brauchen wir wohl vor allem genaue Beschreibungen von Webkommunikation. Ob wir hier zu validen Ergebnissen kommen, ist offen. Ich glaube aber, dass allein die Forschung auf dieser Ebene unsere Fähigkeit, Web Literacy zu vermitteln, vergrößern wird, weil sie unseren Blick für die kommunikativen Phänomene schärft, um die es hier geht.

Ich habe in diesem Post einiges aus früheren Posts und Präsentationen zur Web Literacy wiederholt. Bei uns beginnt jetzt die Phase konkreter Forschungen zu diesem Thema. Ich bin vor allem gespannt, ob es uns methodisch gelingt, Besonderheiten der Webkommunikation als sozialen Phänomens zu erfassen.